Gekippte Welt - Linien helfen bei der Orientierung
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Leitsymptom Anspannung

So unterschiedlich jeder Borderliner auch ist, so verschieden sich die Symptome mischen und zeigen – eines haben wir alle gemeinsam: den Kampf mit der Anspannung. Was ist das eigentlich? Woher kommt sie? Und wie geht sie wieder?


Als „nicht-normale“ finde ich es sehr schwer, nicht-Betroffenen dieses Phänomen näher zu bringen. Aber ich werde es versuchen.

Anspannungszustände sind nicht schön. Überhaupt nicht. Vielleicht hilft ein Vergleich, um die Sache deutlich zu machen: Kennst du die nervöse Unruhe vor einem Flug, einem wichtigen Gespräch, einem unangenehmen Arztbesuch oder einem Sportwettkampf? Die Gedanken drehen sich nur noch um diese eine Sache. Fragen drehen fleißig ihre Runden im Kopf. Wie wird es werden? Klappt alles? Habe ich an alles gedacht? Und so weiter. Es fällt schwer, ruhig dazusitzen oder sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Ein Buch zu lesen, wäre fast unmöglich. Die Gedanken wollen einfach nicht auf der Seite bleiben.

Vielleicht hilft Ablenkung. Beispielsweise ein simples Spiel auf dem Handy, das nicht viel kognitive Anstrengung benötigt. Oder das Durchblättern einer Illustrierten. Wenn der Startschuss dann gefallen, das Gespräch begonnen oder das Flugzeug abgehoben hat, ist die Sache vorbei. Erleichterung, der Körper und der Geist entspannen sich. Buch lesen geht jetzt wieder.

Bei Menschen mit Borderline braucht es nun gar kein äußeres Ereignis, um diese Anspannung hervorzurufen. Manchmal ist sie einfach so da. Manchmal wird sie ausgelöst von Außen, von externen Reizen. Ein Blick, ein Satz, ein Bild – das kann reichen. Und manchmal kommt alles von Innen, aus dem eigenen Kopf. Schmerz, Wut, Trauer, (Selbst)Hass paaren sich mit deinen Gedanken und Erinnerungen zu einem fiesen, schwarzen Etwas, dass dich komplett einhüllt.

Wie ein Karussel dreht sich alles und wird zu einer Art Strudel, der einen nach unten zieht. Es scheint nur noch eine Richtung zu geben. Schlimmer. Und höher geht die Anspannung. Und dann möchte man nur noch, dass dieser Zustand irgendwie aufhört. Egal wie. Bitte einfach Stopp! Kein Termin, der gleich vorbei ist. Kein Gespräch, dass bald vorüber ist. Ich weiß, wenn ich selber nichts tue, dann gibt es kein Ende. Und da kommt dann das selbstschädigende Verhalten ins Spiel.

Die Anspannung in der DBT – Skala und Skills

Die DBT-Therapie (Dialektisch Behaviorale Therapie) ist eine Behandlungsform für die Borderline Persönlichkeitsstörung. Mittlerweile ist sie wahrscheinlich die am häufigsten angewendete. Sie wurde auf die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst und zeigt sehr gute Erfolge. Ich selber habe die DBT bei meiner stationären Therapie in Hamburg kennengelernt. Bald könnt ihr dazu einen ausführlicheren Artikel lesen. Dann werde ich genauer beschreiben, was die DBT ist und wie sie mir geholfen hat.

In der DBT wird die Anspannung auf einer Skala von 0 bis 100 eingeordnet. Veranschaulicht wird dies mit einem einfach Diagramm: Zwei Achsen, eine ansteigende Kurve. Und drei bzw. vier Bereiche: 0-30 | 30-50 | 50-70 (oder nur 30-70) | 70-100. Je höher die Kurve desto schlimmer die Situation. Die 70 stellt eine Art Point of no Return da – ab hier ist kein klares Denken mehr möglich.

Die 0 wird unterschiedlich gedeutet. In manchen Programmen als eine Art Tiefenentspannung, alles ist gut, Körper und Geist sind ruhig. Andere Therapeuten ordnen die 0 eher einer Depression zu. Nichts geht mehr, bis zur Lethargie. Auf diesen Skalen gilt dann die 30 als eine Art erstrebenswerten Idealwert. Ich bin eher Fan der zweiten Lösung. Zwischen 30 und 70 ist ok, drunter und drüber wird es gefährlich. Entweder die Depression oder die Krise wartet auf mich. Die 50 dient oft schlicht der Orientierung. 30-50: gute positive Anspannung. 50-70: immer noch gut, aber bitte schon aufpassen.

Die verschiedenen Module der DBT befassen sich nun mit den unterschiedlichen Anspannungsbereichen. Grundlage für alle Bereiche ist das Üben von Achtsamkeit. Sich voll und ganz auf eine Sache oder sich selbst konzentrieren. Denn auch der stärkste Skill kann wenig bewirken, wenn man in Gedanken nicht bei der Sache ist. Es geht darum, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Und darum, das Bewusstsein für die eigene Innenwelt zu verbessern. Immer wieder Innehalten und schauen, wie hoch die Anspannung gerade ist – um dann dementsprechend handeln zu können. Wenn ein Handeln denn nötig sein sollte.

Solange man sich im Bereich zwischen 30 und 70 befindet wird nun einerseits daran gearbeitet, die Grundanspannung generell zu verringern. Das erreicht man zum Beispiel durch Selbstfürsorge – also ausreichend Schlaf, gute Ernährung, Bewegung, für positive Erlebnisse und Gefühle sorgen. Die anderen großen Baustellen sind zwischenmenschliche Fertigkeiten und der Umgang mit Gefühlen. Denn durch Probleme in einem dieser Bereiche entstehen viele Anspannungszustände. Wenn auch nicht alle.

Krisenstimmung

Ab einem Bereich von 70 spricht man in der DBT von Krise. In diesem Anspannungsbereich passieren auch die ungesunden Verhaltensweisen wie Selbstverletzung. Der oder die Betroffene möchte einfach nur noch, dass der Zustand aufhört. Einfach beenden, egal wie. Und leider funktionieren Dinge wie das Ritzen hier sehr gut. Und zuverlässig. Und schnell.

Ein zentrales Ziel der DBT ist es, andere Fertigkeiten – sogenannte Skills – zu finden, die das selbstschädigende Verhalten ersetzen können. Und trotzdem den Anspannungszustand beenden. Gar nicht so einfach. Denn egal, welche Skills man ausprobiert – es hilft nie so gut wie das Schneiden. Das macht es unheimlich schwer, dem Körper hier eine andere Lösung zu präsentieren, die er dann auch annimmt. Aber es funktioniert doch super – warum machen wir das nicht einfach weiter? Scheint er zu sagen.

Ab einer Anspannung von 70 geht es nun nur noch darum, wieder unter die 70 zu kommen. Keine kognitiv anspruchsvollen Techniken, keine Gefühlsprotokolle oder ähnliches. Diese sind dann wieder an der Reihe, wenn die Anspannung stabil zwischen 30 und 70 liegt. Dann muss aber auch eine Auseinandersetzung mit dem Auslöser stattfinden. Verstehen um in Zukunft zu verhindern, quasi. Denn wenn man sich mit Skills und anderen Techniken zwar aus dem Krisenbereich rausbringt, aber dann die Ursache ignoriert, wird es nicht lange dauern, bis die Anspannung wieder oben ist. Die Profis sagen dazu dann Sägeblatt-Kurve. Hoch – runter – hoch – runter. Immer wieder und schnell hin und her.

Die Skills zum „Runterkommen“ nennen sich Stresstoleranzskills. Sie dienen ausschlißlich dazu, den Fokus von der Anspannung wegzubewegen. Kopf und Körper austricksen, würde ich sagen. Ihnen andere Reize präsentieren, die so stark sind, dass für den Auslöser der Krise, das Gedankenkarussel und die Gefühlsexplosion gar kein Platz mehr bleibt.

Wie du dir bestimmt vorstellen kannst, müssen diese Reize dann natürlich wirklich sehr stark sein. Klassiker sind hier eiskaltes Wasser (den Kopf reinstecken oder über die Arme laufen lassen), eine Chilli-Schote oder etwas anderes scharfes zerkaufen oder auch an Ammoniak riechen.

Wie lange so eine Krise dauert, ist auch sehr unterschiedlich. Bei mir hängt es ganz klar damit zusammen, was der Auslöser war. Manche Krisen sind so schnell vorbei, wie sie gekommen sind. Wenn ich mich fürchterlich über Etwas oder Jemanden aufregen musste. Eine halbe Stunde lang Rambazamba, danach ist dann aber auch wieder gut. Öfter allerdings baut sich die Anspannung bei mir über mehrere Stunden oder auch Tage auf.

Zeichen der Anspannung

Irgendwie merke ich dann, dass etwas nicht stimmt. Früher hätte ich das nie an etwas festmachen können. Es war einfach so ein Gefühl. Das ging irgendwie von weiß bis schwarz. Mit meinem besten Freund hatte ich diese Codierung, damit er einordnen konnte, wie es mir geht. Ab Dunkelgrau war ich im 70er Bereich, würde ich heute sagen.

Während der DBT-Therapie lernt man nun, die eigenen Anspannungszeichen zu erkennen und auf sie zu achten. Denn wie sich die Anspannung äußert, sieht bei jedem Betroffenen anders aus. In den verschiedenen Stadien gibt es unterschiedliche Dinge, durch die sich die Anspannung bemerkbar macht.

Ich merke es zum Beispiel daran, dass mein ganzer Körper unruhig wird. Mir fällt es sehr schwer, still zu sitzen. Das gleiche gilt für meinen Kopf – er steht nicht still, haut mir unaufhörlich Gedanken um die Ohren, dreht sich im Kreis und es führt zu nix. Auch typisch für mich ist, meine Sinne zuzumachen. Kopfhörer auf, Sonnenbrille auf – nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Bitte nicht noch mehr Input für meinen Kopf.

Einfluss auf die anderen Symptome

Die Anspannung hat nichts oder nicht zwangsläufig etwas mit den anderen Symptomen zu tun. In jedem Fall beeinflusst sie aber die Stärke und Häufigkeit, mit der beispielsweise Wutanfälle auftreten. Je höher die Anspannung desto schneller und einfacher kann die Wut die Kontrolle über mich ergreifen.

Überhaupt zeigen sich alle Symptome mehr und selbstbewusster, wenn die Anspannung sich erhöht. Vielleicht kann man sich das so vorstellen, dass die Anspannung die Geschwindigkeit meiner Achterbahn ist. Niedrige Anspannung – die Bahn bewegt sich nur im Schneckentempo. Die Fahrt ist ruhig und kontrolliert. Je höher die Anspannung steigt, desto schneller fährt die Bahn. Rasantes auf und ab – keine Kontrolle mehr.

Was hilft gegen die Anspannung?

Zum Thema DBT wird bald ein eigener Beitrag folgen. Ebenso zum Thema Skills. Zur Achtsamkeit könnt ihr schon mehr lesen – unter anderem, wie und warum sie mir hilft.

Für den Moment aber schon mal so viel: zu allererst musst man sich ändern wollen! Du musst dich für den neuen Weg entscheiden. Du musst mit dem selbstschädigenden Verhalten aufhören wollen. Das ist eine Grundvoraussetzung. Solange du tief drinnen weiter denkst Eigentlich find ich Ritzen nicht so schlimm oder ähnliches, dann hat die Sache wenig Aussicht auf Erfolg.

Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, dann fange an, auf dich zu achten. Tu was dir gut tut. Versuche immer mal wieder in dich reinzuhorchen und zu schauen, was du im Moment wirklich brauchst. Wonach dir ist. Das braucht eine Menge Übung. Vor allem, weil wir Borderliner eigentlich nur allzu gern vor unserer eigenen Innenwelt weglaufen. Sich bewusst machen, dass es einem gerade nicht gut geht, ist der erste Schritt dahin, dass man heil wieder aus der Sache raus kommt.

Übe, die Anspannung im Auge zu behalten. Nutze dazu am besten die 0-100-Skala. Am Anfang hat man keine Ahnung, wo man sich darauf einordnen soll. Aber glaub mir, mit der Zeit bekommst du ein Gefühl dafür. Auf Station wurden wir zu Beginn jeder Einheit nach der Anspannung gefragt. Außerhalb der Klinik kann diese Aufgabe beispielsweise dein Handy erledigen. Stell dir einen regelmäßigen Wecker oder mach dir eine alle paar Stunden eine Erinnerung.

Auch für den Partner ist das eine sehr gute und hilfreiche Sache. Fragt immer mal wieder nach, wo die Anspannung gerade liegt. So kannst du einschätzen, woran du gerade bist. Vielleicht könnt ihr auch gemeinsam die Anspannungszeichen durchgehen. Dem Umfeld fallen oft ganz andere Sachen auf, als einem selber. Und wenn ihr beide lernt, darauf zu achten, kann sich vielleicht die ein oder andere Krisensituation verhindern lassen.

Eine Warnung will ich aber noch schnell loswerden: nur weil die Anspannung im einen Moment bei 30 ist heißt das nicht, dass sie in der nächsten Sekunde nicht bei 90 sein kann. Aber zu wissen, ob der Partner gerade nahe an der 70 oder weit davon entfernt ist, kann den Umgang miteinander wesentlich verbessern.

Meine Anspannung liegt gerade bei 55/60.